Sonntag, 10. Januar 2016

Gehen, ging, gegangen oder wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?

Die Zeit scheint still zu stehen im Leben des emeritierten Professors für Altphilologie, Richard. Der Adventskranz steht seit fünf Jahren, um genauer zu sein, seit dem Tod seiner Frau, auf dem Tisch und Richard sinniert über den Mann, der im Sommer im See hinter seinem Haus ertrank und dessen Leiche nicht geborgen werden konnte, und er selbst nun nicht in den See kann zum Schwimmen, denn was tun, wenn die Leiche hochkommt. Sein Alltag ist beiläufig, Schreiben von Einkaufszetteln, das Auswählen des passenden Kleidungsstücks für die Jahreszeit und das Nachdenken über seine vergangene Zeit mit seiner  jungen Geliebten und seiner alkoholkranken Frau. 
Durch Zufall trifft Richard auf eine Gruppe Flüchtlinge auf dem Oranienplatz. Die Zeit, die er durch seine Pensionierung zu viel hat, verbringt er nun mit den jungen afrikanischen Männern. Absurde Verwaltungsgänge und die persönlichen Geschichten der Männer werden zu seinem Alltag. 
Richard, der sich fremd fühlt in seinem eigenen Leben, nimmt sich derer an, die sich fremd fühlen in einem Land, indem sie eine Bleibe suchen.
Jenny Erpenbeck schafft zum einen vielfältige Porträts junger afrikanischer Flüchtlinge und zum anderen das Porträt eines alternden Mannes aus dem ehemaligen Osten Berlins, der seine Identität nicht zu erkennen vermag und das Unglück seiner verstorbenen Frau während ihrer gemeinsamen Ehe nicht verwunden hat.
Das Sich-fremd-fühlen wird zum Mittler  zwischen den Männern aus Afrika und Richard, der schließlich resümiert, ...

.. "dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte. 
Sowie auf dem Meer?, fragt Khalil.
Ja, im Prinzip genauso wie auf dem Meer."

Jenny Erpenbeck
gehen, ging, gegangen

Knaus Verlag, München 2015



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